Professor Karl Maisch leitet den RKW BW-Arbeitskreis Fertigungsorganisation. In diesem Fachbeitrag bietet er einen ?berblick ?ber die Herausforderungen, vor der insbesondere die Automobilzulieferer in Baden-W?rttemberg stehen. 

?Wenn es nicht gelingt, den Menschen zu vermitteln, dass Transformation tats?chlich Ver?nderung bedeutet, k?nnen gesellschaftliche Gro?projekte wie Energiewende und klimaneutrale Mobilit?t nicht gelingen.? (Dr. Stefan Wolf, CEO der Elring Klinger AG)

Die meisten Unternehmen haben momentan andere Sorgen, als ?ber die Transformation, d.h. die ?nderung eines bislang gewohnten Zustandes nachzudenken. Dennoch sehen wir gerade, dass sich in Krisen die Probleme versch?rfen, weil pl?tzlich nicht nur ein Problem, sondern viele zu bew?ltigen sind. So ist es gegenw?rtig in der Automobilbranche, dort haben nicht nur die Hersteller, sondern auch die Zulieferer die Folgen der Pandemie sowie die Folgen des Wandels von der Verbrennertechnik hin zur E-Mobilit?t zu bew?ltigen. Dennoch, allen Prophezeiungen zum Trotz, hat die Branche wieder erstaunlich schnell Fu? gefasst, weil sich die Nachfrage in China sehr schnell erholte. Trotzdem stellt sich das l?ngerfristige Problem der Transformation weiterhin. Die Notwendigkeit zur Transformation ergibt sich aus den Megatrends:

  • der Klimawandel und der daraus resultierende gesellschaftliche Druck zur systematischen und fl?chendeckenden Dekarbonisierung
  • die Energieverknappung und die weiter steigenden Energiekosten in Deutschland
  • die sich weltweit abzeichnende Wasserverknappung
  • die Diversifizierung und zunehmende Variantenvielfalt bei gleichzeitig sinkenden Losgr??en
  • der Margenverfall bei standardisierten Konsum- und Investitionsg?tern
  • der Margengenzuwachs bei kundenspezifischen Premiumprodukten
  • zunehmende Regressforderungen von Gro?- und Endkunden
  • der Druck von Industrie- und Endkunden zur permanenten Dokumentation und R?ckverfolgung.

Diesen Megatrends muss nicht jedes Unternehmen folgen, es kann jedoch nicht schaden, gelegentlich zu ?berlegen, wie diese Aspekte bei den Produkten und Prozessen ber?cksichtigt werden k?nnen. Sp?testens dann, wenn die Trends sich hemmend auf die weitere Gesch?ftsentwicklung auswirken, ist es an der Zeit, sich Gedanken zu machen und neue Gesch?ftsfelder zu entwickeln. Die Anpassung an den Wandel wird durch die Wandlungsf?higkeit und die Wandlungsbereitschaft beschrieben. Mit der Wandlungsf?higkeit sind die Ressourcen (Maschinen, Verfahren, IT etc.) gemeint, die so beschaffen sein sollten, dass der Wandel ohne gr??eren Aufwand machbar ist. Unter der Wandlungsbereitschaft verstehe ich prim?r die Haltung und Einstellung von F?hrungskr?ften und Mitarbeitern, sich dem Wandel zu stellen und ihn nach besten M?glichkeiten proaktiv zu gestalten. Dazu m?ssen alle Ebenen einbezogen werden: 

  • die strategische Ebene, d.h. die Bereitschaft der F?hrungskr?fte, gemeinsam mit anderen F?hrungskr?ften ?ber Strategien nachzudenken und dann anzusto?en; und wenn dies nicht auf dem gewohnten Weg m?glich ist, dann auch mit unkonventionellen Schritten, indem z.B. auch junge und Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Team eingebunden werden. Die unterschiedlichen Perspektiven k?nnen zu v?llig neuen L?sungen f?hren
  • die Mitarbeiterebene, die am besten durch eine flache Organisation und eine offene Kommunikationskultur an den Wandlungsprozessen beteiligt werden kann
  • eine progressive Unternehmenskultur, die daf?r sorgt, dass innovative Kraft und Inspiration Resonanz finden, und die den Wandel als Chance und nicht nur als Bedrohung erlebbar macht.

Mein Anliegen ist, dass Unternehmen ihre Wandlungsf?higkeit und Bereitschaft zum Wandel oder zur stetigen Anpassung an neue Erfordernisse immer wieder ?berpr?fen. Dabei wird erkennbar, dass es Situationen gibt, in denen trotz aller Bereitschaft zum Wandel auch Schwierigkeiten und Verschwendungen entstehen, die sich momentan einfach nicht vermeiden lassen. Anhand einiger exemplarischer F?lle m?chte ich zeigen, wo eventuell Ver?nderungsbedarf angezeigt ist und wo die Hausaufgaben bereits gut gemacht wurden. 

Der Serienfertiger mit einer proaktiven und reaktiven Wandlungsf?higkeit und -bereitschaft:

Anfang Januar bestellte ich bei einem H?ndler einen Industriestaubsauger eines Herstellers von Holzbearbeitungsmaschinen aus Baden-W?rttemberg. Normal werden Produkte dieses Herstellers binnen zwei bis drei Tagen geliefert. Inzwischen, f?nf Wochen sp?ter, teilte mir der H?ndler mit, dass es Lieferschwierigkeiten gebe und die Lieferung wohl noch einige Wochen dauern w?rde. Der Hersteller, ein Serienfertiger mit Standardprodukten und l?nderbezogenen Varianten hat in verkehrsg?nstiger Lage ein Konsignationslager eingerichtet, welches die Lieferanten beliefert und selbst f?r die Nachf?llung sorgt (sog. VMI). T?glich wird im Zweistunden-Zyklus an die Montagelinien geliefert, die sich in einem acht Kilometer entfernten Werk befinden. Somit sind sehr kleine Umlaufbest?nde erzielt und kleine Lagerfl?chen im Produktionswerk entstanden. Als Folge davon konnten die Kommissionierfl?chen verkleinert und Kommissionierauftr?ge gut getaktet werden. 

Weshalb es trotz dieser schlanken und effizienten Auftragsabwicklung zu Lieferschwierigkeiten kommt, kann nur vermutet werden, entweder ist im Herstellerwerk die pandemiebedingte Personaldecke so d?nn, oder es sind trotz Nachschubsteuerung der Lieferanten Lieferprobleme bei den Vormaterialien entstanden. Ein drittes Problem k?nnte durch die erschwerten Zollabwicklungsformalit?ten bei Waren aus Gro?britannien entstanden sein.
Wie auch immer, der Hersteller hat eigentlich immer alles richtig gemacht; eine sehr schlanke und hocheffiziente Fertigung, eine sehr gut organisierte Materialbeschaffung, Konsignationslager, ein recht intelligentes MES-System mit einer kompletten Tracing-Funktion und schlie?lich innovative Produkte. Und dennoch ger?t er - liefertechnisch gesehen - in eine Schieflage, die f?r den Kunden ?rgerlich sein kann. Dieser Fall soll zeigen, dass trotz Erledigung aller Hausaufgaben auch sehr gut strukturierte Unternehmen tempor?r ihren Gesch?ftszweck nicht mehr im gew?nschten Ma?e wahrnehmen k?nnen. In diesem Fall k?nnte der Anpassungsbedarf vermutlich nur darin bestehen, dass entweder die Anlieferlogistik ?berpr?ft oder die Schicht bedingte Personallage ?berpr?ft wird.

Der kundenbezogene Fertiger mit proaktiver und reaktiver Wandlungsf?higkeit:

Nun das Beispiel eines Unternehmens, das Umkleidekabinen f?r B?der herstellt, also ein Sondereinzelfertiger mit extrem hoher Variantenvielfalt. Das Unternehmen hat vor etwas mehr als drei Jahren App-Entwickler eingestellt, die eine passgenaue Auftragssteuerung entwickelten. Von der gro?en Schers?ge kommend, werden die HPL-Zuschnitte gleich mit einem Bar- oder Matrixcode mit der Teilebezeichnung und Auftrags- bzw. Projektnummer versehen. Der Werker kann nun sehr schnell die Zuschnitte f?r die Beschl?gemontage kommissionieren und zur Endmontage und anschlie?end zum Versand bringen. Dieser Ablauf ist in einen sehr schlanken Materialfluss eingebettet. In diesem Fall konnte die neue App-Programmierung die Auftragsverfolgung sehr vereinfachen. Auch dieses Unternehmen hat durch schlanke und standardisierte Prozesse trotz stets unterschiedlicher Projektauftr?ge den ersten wichtigen Schritt in die Digitalisierung erfolgreich gestartet und damit unn?tige Suchzeiten verringert. Die proaktive Anpassungsf?higkeit ist gleichsam die DNA des Unternehmens, denn die Zeit zwischen Auftragsvergabe und Auftragserstellung schwankt sehr stark. Die schnelle Reaktionsf?higkeit auf die Schwankungen trainiert das Unternehmen, indem es j?hrlich einen Wettbewerb - the Race ? durchf?hrt: Dabei wird ein Auftrag f?r eine standardisierte Kabinenkombination von der Auftrags- bis zur Versandbereitstellung an erstellt und gefertigt und die Zeit gemessen, diese ist sensationell kurz. 

Die Transformation in der Automobilindustrie: 

Detroit ging vor vielen Jahren fast zugrunde, weil die dortige Auto-Industrie die Zeichen der Zeit nicht erkannte, n?mlich qualitativ hochwertige und spritsparende Pkw zu bauen. Sindelfingen, Neckarsulm und Zuffenhausen bleibt dies hoffentlich erspart, denn die Zeichen der Zeit wurden erkannt, z. B. pr?sentiert Daimler mit der Factory 56 die Zukunft der Produktion. In Zuffenhausen l?uft der Taycan, der erste E-Sportwagen von Porsche, vom Band. Dennoch l?uft es nicht mehr so rund wie fr?her, die Verkaufszahlen sind bei vielen Herstellern eingebrochen, dies sp?ren vor allem die Zulieferer der zweiten und dritten Ebene. Gerade in Baden-W?rttemberg herrscht viel Unsicherheit ?ber die weitere wirtschaftlich-technische Entwicklung, die sich im Zuge des schrittweisen Wandels von der Verbrennungstechnik zur E-Mobilit?t ergibt. Sehen wir uns das in einem einfachen Portfolio an, dann verstehen wir, weshalb die Transformation in diesem Fall so schwierig ist und z?h verl?uft. Hebelprodukte zeichnen sich durch ein geringes Absatzrisiko und ein hohes Absatzvolumen aus, dies sind die Verbrenner-Pkw. Engpassprodukte hingegen haben ein sehr hohes Absatzrisiko bei einem noch geringen Absatzvolumen, die Transformation soll bewirken, dass die Endprodukte sich zuk?nftig zu strategischen oder gar zu Hebel-Produkten wandeln, um der gew?nschten Ziele gerecht zu werden, dies ist jedoch momentan eher ein wirtschaftlicher Harakiri. 

Damit sich das Absatzrisiko mindert, werden E-Pkw subventioniert. Dies hilft, wenn sie keine reinen Mitnahmeeffekte verursachen, denn sonst entstehen gravierende Fehlallokationen, was gegenw?rtig noch offen ist. Was also k?nnte weiter getan werden, um Markteintrittsbarrieren zu mindern? Ein erster, wirksamer Schritt w?re, die Rahmenbedingungen so zu ?ndern, dass sehr schnell z.B. eine komplette Ladestationen-Infrastruktur fl?chendeckend oder zumindest in st?dtischen Regionen geschaffen wird. Dann w?rde Vertrauen in die Transformation entstehen, das auch Nachfragevolumen schafft. 

Ein weiterer Schritt w?re, die F?rderung der Fertigungstechnik, die zur Transformation beitr?gt, massiv zu forcieren und mit der Fabrik-Digitalisierung zu verschr?nken. Die Blaupause hierf?r hat Daimler mit der Factory 56 geliefert, dort k?nnen vom Kompaktwagen bis zum SUV s?mtliche Modelle als Verbrenner, Plugin- Hybride oder als E-Pkw in einer Linie gefertigt werden.
Mittelst?ndische Zulieferer k?nnen dies freilich nicht so einfach ?bernehmen. Dennoch sollten sie versuchen, das eine zu tun, ohne das andere zu lassen, also weiterhin die Verbrennertechnik zu beliefern, aber sich gleichzeitig um die E-Mobilit?t zu bem?hen. Auch die Identifikation neuer M?rkte, etwa die Energietechnik, bietet Chancen, dies sollte mit der Fabrikmodernisierung verbunden werden. Hier w?ren steuerliche Entlastungen und F?rderungen anzustreben. Um diese zu erhalten, k?nnte man fordern, dass Unternehmen f?r die Netzstruktur aufkommen (z.B. WLAN in der Produktion oder RFID-Antennen-Infrastruktur).

Es ist der Antriebsstrang, der sich in der E-Mobilit?t komplett ?ndert, daher sei an einigen einfachen Beispielen gezeigt, dass insbesondere die ?Zerspaner? in Baden-W?rttemberg andere Gesch?ftsfelder finden m?ssen. Bedingt durch den vereinfachten Antriebsstrang werden bis zu 90 Prozent weniger Teile verbaut. F?r den Motor sind ?hnliche Teilereduzierungen zu erwarten, je nach Ausstattungsvarianten, im Premium-Pkw wird die Teilereduzierung kleiner sein als im Kompaktwagen-Sektor. In der Zerspanungstechnik kann die Zerspanungshauptzeit, je nach Bearbeitungsverfahren, zwischen 45 und 78 Prozent zur?ckgehen.

Was k?nnte die Branche tun? Vielleicht lohnt sich ein Blick auf die japanische Auto-Industrie, die seit Jahren einen regen Wissenstransfer zwischen den Zulieferern und der Toyota Motor GmbH betreibt. Der Wissensaustausch reicht von der innerbetrieblichen Beratung des Herstellers (OMCD) bei den Zulieferern ?ber autonome Lerngruppen bis zum Mitarbeiteraustausch. Angesichts der au?ergew?hnlichen Situation sollten die Akteure zumindest ?ber derartige Wissenstransfers nachdenken, dies kann die Aktivit?ten jeder einzelnen Firma kongenial erg?nzen. 

Ein Beispiel f?r proaktive Wandlungsf?higkeit eines mittelst?ndischen Global Players:

Ein weltweit agierender schw?bischer Systempartner der Automobilindustrie versucht den Spagat, indem er neben seinem bew?hrten Lieferantenprofil f?r Leichtbaul?sungen, Dichtungstechnik und Werkzeugtechnologie sowie Engineering-Dienstleistungen auch zunehmend L?sungen f?r die Elektromobilit?t und Wasserstofftechnologie anbietet. Wie macht er das? Bereits seit 2011 werden vom Unternehmen Produkte f?r Lithium-Ionen-Batterien in wirtschaftlicher Serienfertigung sowie verschiedene Zellkontaktiersysteme hergestellt. Jetzt hat das Unternehmen einen neuen Standort gebaut, dort werden die Aktivit?ten des Gesch?ftsbereichs Batterietechnologie geb?ndelt. Betroffen sind 125 Besch?ftigte aus den Bereichen Vertrieb, Entwicklung, Musterbau, Industrial Engineering, Produktionsqualit?t und Projektmanagement. Ferner sollen der Musterbau und zuk?nftige Serienanl?ufe des Gesch?ftsbereichs ?Drivetrain? in die Anlauffabrik integriert werden. Nat?rlich hat das Unternehmen mit 45 Produktionsstandorten und mehr als 10.000 Mitarbeitern ein wesentlich gr??eres Potenzial als ein kleines Zulieferunternehmen in der dritten Reihe (sog. 3 Tier). Aber auch dort sollten M?glichkeiten genutzt werden, wie z.B. jenes Unternehmen, das sich einen Projektplan f?r die F?rderung einer papierlosen Fertigungssteuerung erstellt hat. Erg?nzend k?nnte das Unternehmen eine Schwachstellenanalyse machen und pr?fen, ob und wie sie das Produktportfolio erg?nzen k?nnte. 

Auf der politischen Ebene sind zwischenzeitlich Innovations- und Investitionsprogramme aufgelegt worden, die f?r die Transformation genutzt werden k?nnen. Hier zwei Beispiele aus Baden-W?rttemberg: Transformationwissen BW ist eine Informationsplattform mit der M?glichkeit der Beratungsf?rderung, Invest BW ist ein F?rderprogramm f?r Zukunftsinvestitions- und Innovationsfinanzierung.

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